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Der Krieg um die 40 Toten von Racak im Kosovo Massaker oder "nur" die Opfer eines Tages?

Berlin, 22.1.1999

­ Waren die Toten von Racak im Kosovo Opfer eines Massakers der Serben ­ oder sind die Leichen Teil eines makabren Schaustücks der Untergrundarmee UCK geworden, um den Westen zum Eingreifen zu bewegen? In der britischen und französischen Presse machen derartige Spekulationen derzeit die Runde. Der Kosovo-Krieg wird immer mehr auch zur Propagandaschlacht.

Den Berichten zufolge könnten die unstrittig kosovo-albanischen Toten Opfer der Gefechte eines ganzen Tages sein ­ in der Nacht zusammengetragen und in dem Hohlweg oberhalb von Racak von UCK-Kämpfern „fotogerecht" zu einem Haufen von mehr als 40 Leichen arrangiert. Die französischen Tageszeitungen „Le Monde" und „Le Figaro" sowie der britische „Guardian" stützen diese in Frageform gekleidete Spekulation auf Indizien vor Ort und auf Hinweise aus dem OSZE-Team, das die Toten derzeit untersucht.

Ein Kamerateam des TV-Ablegers der Nachrichtenagentur AP habe während der Gefechte um und in Racak den ganzen fraglichen Freitag vergangener Woche gefilmt, schreibt der „Figaro". Die Aufnahmen gäben jedoch keinen Hinweis auf ein Massaker. Außerdem habe das serbische Polizeikommando selbst das TV-Team und OSZE-Beobachter von der Aktion gegen das Dorf vorab informiert und bereits am Nachmittag eine Pressemitteilung zum erfolgreichen Kampf gegen die „UCK- Terroristen" in Racak herausgegeben.

Laut "Figaro" hätten zudem zwei OSZE-Fahrzeuge mit amerikanischen Nummernschildern den ganzen Tag auf einem Hügel oberhalb von Racak gestanden, von wo aus das Dorf gut zu überblicken sei ­ nicht aber der 500 Meter entfernte Hohlweg, in dem am nächsten Morgen UCK-Kämpfer herbeigerufenen Journalisten und OSZE-Mitarbeitern den Leichenberg gezeigt hätten.

Der Chef der OSZE-Mission im Kosovo, William Walker, hatte die Serben für das Massaker verantwortlich gemacht. Seitdem hat sich die Kosovo-Krise zugespitzt.

Die serbische Führung hatte von Anfang an vehement das Massaker bestritten und entweder die UCK selbst für die Toten verantwortlich gemacht ­ oder behauptet, es seien im Kampf getötete UCK-Leute, die später von den Albanern zu Propagandazwecken in Zivilkleidung gesteckt worden seien. Allerdings ist bekannt, daß die Serben getötete Kosovo-Albaner selbst mitunter regelrecht zur Schau stellen ­ um die Bevölkerung der Krisenprovinz einzuschüchtern und ganze Dörfer in die Flucht zu treiben.

Die UCK hatte erklärt, die Serben hätten nach der kurzzeitigen Einnahme des Dorfs Männer und Jungen von ihren Familien getrennt, in Richtung der umliegenden Hügel abgeführt und in dem Hohlweg dann abgeschlachtet. Tatsächlich weisen nach Angaben aus OSZE-Kreisen zahlreiche Leichen Wunden von tödlichen Schüssen aus nächster Nähe auf, was auf eine Art Hinrichtung weist. Andere Opfer jedoch seien offenbar nicht an Ort und Stelle getötet worden, zitiert der „Guardian" einen OSZE-Mitarbeiter. Schleifspuren und Spuren von Blut oder Gehirnmasse ließen darauf schließen, daß die Leichen aus der Umgebung herbeigeschafft worden seien.

Wenn das stimmt, liegt der Schluß nahe, die UCK habe aus der militärischen Niederlage von Racak einen politischen Sieg machen wollen. Auch im Bosnien- Krieg hatten mehrere Massaker und ausschließlich gegen die Zivilbevölkerung gerichtete Angriffe den Westen nach langem Zögern zum Eingreifen bewogen ­ zur Rettung der von den Serben angegriffenen bosnischen Moslems. In mindestens einem Fall jedoch war es offenbar eine bosnisch-moslemische Granate, die auf einem belebten Marktplatz mehrere Dutzend moslemische Zivilisten tötete. Der Vorfall wurde nie restlos aufgeklärt. nik

© DIE WELT, 22.1.1999